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Annemarie Schönherr
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Am 21. März 2013 ist Annemarie Schönherr unerwartet gestorben – ein wenig so, wie sie es sich immer gewünscht hatte: sie stand morgens auf, fühlte ein leichtes Unbehagen und legte sich wieder zu Bett, um dort für immer einzuschlafen. So ist ihr Wunsch in Erfüllung gegangen, auf dem Weg zum Ende des Lebens niemandem zur Last zu fallen – dabei hätten viele Menschen, vor allem aus ihrer großen Familie sie gern begleitet und gepflegt!
Wenn ich an Annemarie denke, fallen mir unwillkürlich zwei Bilder ein: das erste in dem von den SS Einsatztruppen vollkommen zerstörten Dorf mit seiner eindrucksvollen Gedenkstätte Chatyn in Weißrussland. Die Bronzefigur des Schmieds, der seinen toten Sohn auf den Armen trägt, kommt einem am Eingang entgegen und erinnert an die Dorfbewohner, die in Chatyn alle in einer Scheune verbrannten. Annemarie und ich waren als Mitglieder des Ausschusses für Gerechtigkeit und Frieden des ÖFCFE 1987 mit 8 Frauen aus 8 europäischen Ländern Gäste unserer Partnerinnen in der damaligen Sowjetunion. Wir beiden Deutschen aus Ost und West standen bedrückt vor dem Mahnmal, schließlich kamen wir aus dem Land – gleichgültig ob Ost oder Westdeutschland – das den Krieg begonnen hatte und zu dem auch die Einsatztruppen gehörten. Unsere Bitte um Vergebung war schwer zu sprechen und sie war leise, aber sie wurde gehört und wir bekamen beide von Vera, der Baptistin aus Leningrad, einen grünen Birkenzweig als Zeichen der Versöhnung.
Das andere Bild stammt aus Basel: bei der Ersten Ökumenischen Versammlung an Pfingsten 1989, also mehrere Monate vor dem Fall der Mauer gab es einen Dreiländerpilgerweg, bei dem wir drei Grenzen überschritten. Annemarie lief stumm neben mir und versteckte ihre Tränen hinter einer dunklen Sonnenbrille; es war für sie so unglaublich, dass wir einfach über Grenzen gehen konnten! Zugleich barg dieser Gang eine Hoffnung in sich, an die sie damals noch nicht glauben konnte und die sie doch zu Tränen bewegte und erfüllte!
Bei dieser Basler Versammlung unter dem Titel „Frieden in Gerechtigkeit“ hielt Annemarie Schönherr den großen Hauptvortrag zum Thema Frieden, und wir im Forum waren alle sehr stolz, dass eine der Unsern diese große Aufgabe übertragen bekommen hatte! In äußerst klarer und präziser Sprache stellte sie die Herausforderungen einer Friedenspolitik dar, die wir wörtlich auch heute uns sagen lassen könnten und sollten! Die Entfeindung von der sie sprach hat zwischen den großen Ost- West Blöcken inzwischen zwar in etwa stattgefunden, aber bauen wir nicht an neuen Feindbildern? Für sie war die Suche nach mehr Gerechtigkeit und Frieden immer ein Prozess, ein Weg, auf den wir uns machen müssen.
Der Weg ist das Ziel – das hatte Annemarie schon sehr früh gesehen und auf allen Ebenen des konziliaren Prozesses versucht einzubringen. So war sie es, die, angeregt durch eine christliche Frauenkonferenz in der DDR, für die Frauenvorsammlung von Basel den schönen Titel vorschlug: „Gerechtigkeit suchen, Frieden machen, mitgeschöpflich leben.“ Also lauter Verben, die zum Handeln einladen! Der Titel lehnte sich an die Seligpreisungen an, das Kernstück der Bergpredigt, die für sie immer die Richtschnur ihres Glaubens und Handelns war. Von ihr habe ich gelernt, dass und wie die Bergpredigt tauglich ist für das tatsächliche praktische Leben von uns Menschen allen– und nicht nur für ein kleine Schicht auserwählter Heiliger.
Sie war es auch, die den zentralen Abschnitt des Schlussdokuments von Basel zur Umkehr zu Gott formulierte, der das geistliche Zentrum dieses Dokuments darstellt.
Sie war eine unbestechliche und kreative Theologin, die uns Frauen viele Wegmarken gesetzt hat, immer bescheiden, sich selbst zurücknehmend, aber im entscheidenden Moment bereit „in die Bütt zu gehen“, also für ihre Meinung einzustehen und in den Kirchen voranzubringen. Sie hat uns Frauen damit alle weitergebracht. Wenn heute die Stimme der Frauen in vielen Kirchen gehört wird, wenn Frauen an leitender Stelle mitarbeiten, wenn sie das Gesicht der Kirchen mitprägen, dann ist es das Verdienst von Frauen wie Annemarie Schönherr!
Dabei hatte sie selbst noch mit großen Hindernissen zu kämpfen: 1932 in Zörbig in Sachsen – Anhalt geboren, studierte sie Theologie in Halle und arbeitete dort anschließend am Institut für neutestamentliche Forschung. 1961 übernahm sie ein Pfarramt in Halle-Gesundbrunnen; aber sie gehörte noch zu der Generation von Frauen, die nur unverheiratet im Pfarramt bleiben konnten. Daher erhielt sie zugleich mit der Gratulation zu ihrer Verlobung mit Albrecht Schönherr von der Kirchenleitung die Nachricht, dass ihre Ordinationsrechte von nun an ruhen würden! So ging sie mit ihrer Heirat ins Ehrenamt, sie wurde Leiterin zunächst der Pfarrfrauenarbeit, dann der evangelischen Frauenarbeit in der DDR, sie hielt zahllose Vorträge und schrieb zahllose Aufsätze zur Situation der Frauen in der Kirche, über neue Erkenntnisse der feministischen Theologie, über ethische Fragen der Gegenwart und war ein Vorbild und eine weise Begleiterin von vielen, vielen Frauen ihrer Kirche und weit darüber hinaus; sie wurde Mitglied im Vorstand des Kirchentags und leitete mit ihren Vorstandskollegen den Übergang von den Kirchentagen in der DDR zu einem gesamtdeutschen Kirchentag, so wie er vor dem Bau der Mauer schon existiert hatte. Sie engagierte sich ökumenisch und wurde Mitglied des Koordinierungsausschusses und des Ausschusses für Gerechtigkeit und Frieden in unserm ÖFCFE. Während Jahren hat sie die Arbeit des Forums wesentlich mitgeprägt!
Wir verdanken ihr unendlich viel: Inspiration, Freundschaft, Treue, Ermutigung und Unbeirrbarkeit. Ihre Kritik, von der wir so viel gelernt haben, war immer liebevoll und aufbauend. Wenn ich selbst an einem Vortrag oder Text arbeitete, holte ich mir von ihr Rat und Kritik – und sie hat mir beides nie versagt. Sie war Freundin und Lehrerin zugleich. Ihre kluge warme Stimme werden wir vermissen; und es wird uns guttun, uns immer mal wieder zu fragen: was hätte sie dazu gesagt?
Elisabeth Raiser